top of page

Antisemitismus? Gibt's in Deutschland nicht! Und wenn doch, dann sind die Juden selbst schuld.

kpeterl

TL;DR: Die Jüdische Allgemeine klagt zu Recht: „Antisemitismus war kein Thema im Wahlkampf!“ Die Kommentarspalten antworten: „Warum sollte man sich mit jüdischen Problemen beschäftigen, wenn es doch deutsche Probleme gibt?“

Dass das, was Deutsche, die Jüdischen Glaubens sind, für ein Problem halten, nicht als deutsches Problem anerkannt wird, hat Tradition – von Wilhelm II. über die Wannseekonferenz bis hin zur AfD und links blinkenden, dann rechts abbiegenden "Free Palestine" Aktivist*innen.



Was nicht thematisiert wird, existiert nicht. Diese journalistische Binsenweisheit, einst formuliert von deutschen Medienprofis, die die Berichterstattung über gewisse deutsche Verbrechen in den 1930ern und 40ern nach Kräften optimierten, findet bis heute Anwendung.

Da beklagt die Jüdische Allgemeine, dass der rasant steigende Judenhass in Deutschland in keiner großen Wahlsendung thematisiert wurde – und was passiert? Die deutsche Kommentarspalte liefert den Beweis: ein Rauschen, so vertraut wie das Klappern von Messern und Gabeln in einer Kantine, in der keiner mit dem Kellner sprechen will.


Denn warum sollte man sich mit Antisemitismus beschäftigen, wenn es doch wichtigere Probleme gibt? So klärt uns Markus Fischer-Jäger auf, dass „Deutschland genug eigene Probleme“ hat, als dass es sich „immer auf euch Juden Rücksicht nehmen“ könnte. Dass das, was Deutsche, die Jüdischen Glaubens sind, für ein Problem halten, nicht als deutsches Problem anerkannt wird, hat Tradition – von Wilhelm II. über die Wannseekonferenz bis zur AfD und links blinkenden, dann rechts abbiegenden "Free Palestine" Aktivist*innen.


Ulrich Zehetbauer assistiert artig: „Es gibt in Deutschland bei weitem wichtigere Probleme.“ Und damit kein Missverständnis aufkommt: Selbst wenn Antisemitismus doch einmal auftaucht, ist klar, wer daran schuld ist. Thilo Schneider fragt, wie es denn sein könne, dass Juden nicht einfach selbst dafür sorgten, „den Hass abzubauen, anstatt ihn noch zu schüren.“ Täter-Opfer-Umkehr? Aber bitte mit Sahne!


Wer hätte es gedacht: Die deutsche Öffentlichkeit, frisch entlastet von jedem Bewusstsein für die eigenen Zustände, kann sich endlich dem eigentlichen Problem widmen – nämlich dem, dass man gar kein Problem hat. „99,999999% der Bürger sind KEINE Judenhasser“, klärt No Scho die überempfindlichen Juden auf. Eine bemerkenswerte Zahl, die vermutlich auf denselben Statistiken beruht, mit denen einst 99,999999% der Deutschen nichts von Auschwitz wussten. Man wusste von nichts, man tat ja nichts – und wenn doch, dann war’s nicht so schlimm. Ein Narrativ, das vom Schwarz-Weiß-Fernsehen bis zu Telegram-Gruppen überlebt hat.


Doch wer Judenhass nicht wegrelativiert, der kann sich ihm auch ganz offen hingeben. wbhickup, ein feinsinniger Geist mit einer Vorliebe für historisch bewährte Sprachbilder, nennt Israel einen „Vogelschiss und überflüssigen Pickel am Hintern der Welt.“ Eine Formulierung, so dezent wie ein Stahlhelm auf einem AfD-Parteitag. Und wer noch Zweifel hatte, dass es um Juden und nicht nur um Israel geht, den belehrt Markus Fischer-Jäger eines Besseren: „Ihr Juden seid nicht der Nabel der Welt.“ Dass ausgerechnet eine Minderheit, die im besten Fall ignoriert, im schlechtesten vernichtet wurde, sich nicht als Zentrum der Welt begreifen sollte, ist eine Logik, die selbst in Dresden noch Beifall findet.


Doch genug vom Judenhass – es gibt drängendere Themen! Frederik Kierkegaard entdeckt nämlich einen neuen -ismus: „Wäre es nicht höchste Zeit, ehrlich über den #Deutschenhass zu sprechen?“ Die ewigen Opfer der Geschichte – also die Deutschen – erheben endlich ihre Stimme gegen den aggressiven jüdischen Mainstream. Es ist der alte Trick derer, die in der Täterrolle festsitzen: Man dreht sich einmal um die eigene Achse und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die anderen.


Das Ganze wäre eine absurde, satirereife Posse, wenn nicht so viele an ihr mitspielten. Die Mehrheit der Kommentare ist entweder direkt antisemitisch oder relativiert den aktuellen Judenhass in Deutschland. Besonders auffällig ist die Täter-Opfer-Umkehr, die Unterstellung jüdischer Arroganz und Macht, sowie der Versuch, Antisemitismus als irrelevant oder übertrieben darzustellen. Diese Mechanismen tragen dazu bei, dass Antisemitismus gesellschaftlich weiter akzeptiert wird – genau das Muster, das sich in der politischen Debatte oft wiederholt.


Die Jüdische Allgemeine beklagt, dass Antisemitismus im Wahlkampf kein Thema war. Die Deutschen hören zu, verstehen – und liefern ihn prompt in den Kommentarspalten nach.


Wer behauptet, es gäbe kein jüdisches Problem, meint: Es gibt zu viele Jüdische Menschen in Deutschland, die sich darüber beschweren. Aber, wie wir ja jetzt wissen: Deutschland hat wichtigere Probleme. Und sollte doch einmal ein Jüdischer Mensch in einer Wahlsendung erwähnt werden, dann bitte nur, um zu diskutieren, warum er noch da ist.

 
 
 

コメント


bottom of page