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Die alarmierende Geschwindigkeit der Normalisierung von Antisemitismus

TL;DR: Antisemitismus hat in Deutschland seit Oktober 2023 wieder besorgniserregend an Normalität gewonnen, oft getarnt als „Israelkritik“. Jean Améry warnte schon in den 196oger Jahren, dass Antizionismus häufig nur ein Deckmantel für alten Judenhass sei, und diese Form des „ehrenhaften Antisemitismus“ gefährlicher werde, wenn sie sich als moralisch gerecht darstellt. Die Gesellschaft reagiert zunehmend passiv, was zu einem explosiven Anstieg antisemitischer Straftaten geführt hat. Wenn die Normalisierung des Hasses weitergeht, könnte dieser Antisemitismus dauerhaft in die Mitte der Gesellschaft dringen.



Wie konnte Antisemitismus, dieses Mahnmal vergangener Gräuel, in Deutschland – dem Land, das sich „Erinnerung“ auf die Fahnen schrieb – seit Oktober 2023 erneut zur Normalität werden? Jean Améry, österreichischer Schriftsteller, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Überlebender der Shoah, hätte wohl eine klare Antwort darauf gegeben. Für ihn war die sogenannte „Israelkritik“ oft nichts anderes als ein moderner Deckmantel für uralte Judenfeindlichkeit. „Antisemitismus steckt im Antizionismus wie ein Gewitter in der Wolke,“ schrieb er, und warnte vor einem „ehrenhaften Antisemitismus“, der Hass auf Juden durch die vermeintliche moralische Verurteilung Israels verdeckte. Amérys Worte erscheinen heute beunruhigend aktuell. In einer Mischung aus Ignoranz, Passivität und einem Mangel an Auseinandersetzung hat sich der Antisemitismus in Deutschland wieder tief in die Gesellschaft eingegraben, von den Straßen bis in die Kommentarspalten.

 

Kein Zufall ist es, dass Antisemitismus heute häufig verschlüsselt auftritt. Statt offener Hasstiraden hantiert man mit „kritischen Fragen“ zur „zionistischen Lobby“ oder malt die „Weltverschwörung“ an die Wand, getarnt als „Finanzkapital“ oder „Rothschild“. Diese alten Codes, von Améry als „rationalisierte Verachtung“ entlarvt, haben in sozialen Medien neues Leben gefunden. Monika Schwarz-Friesel beschreibt das Netz als perfekten Nährboden für diese Codes, deren „schnelle, unkontrollierte Verbreitung“ die Normalisierung antisemitischer Inhalte beschleunigt. So ist es kein Wunder, dass antisemitische Straftaten in Deutschland seit dem 7. Oktober förmlich explodiert sind – über 2.600 Delikte allein im letzten Monat, viele davon unter dem Deckmantel des „propalästinensischen Protests“.

 

Améry war schockiert, dass diese Form des Hasses besonders in der politischen Linken, die sich früher als Gegner des Antisemitismus verstand, auf fruchtbaren Boden fiel. Die linke Unterstützung des palästinensischen „Befreiungskampfes“ und die Verurteilung Israels als imperialistische Macht wertete er als gefährliche Rationalisierung. Heute verdeckt „Israelkritik“ häufig eine Ablehnung des Existenzrechts Israels, was Améry als nichts anderes als die ideologische Vorbereitung auf eine „neue Katastrophe“ sah – „Auschwitz am Mittelmeer“, wie er es beunruhigend nannte.

 

Alarmierend ist die gesellschaftliche Reaktion: Statt Aufschrei und Handeln ein müdes Schulterzucken. Kein Wunder, dass sich junge Juden wie Anton Tsirin, der Präsident der Makkabi Deutschland Jugend, nicht mehr mit Kippa auf die Straße trauen. „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, Gewalt zu erleben,“ sagt er. Der Hass ist zurück und fühlt sich sicher wie lange nicht.

 

Wie konnte es so weit kommen? Die Gesellschaft hat sich an antisemitische Übergriffe gewöhnt und in der Bagatellisierung eine Perfektion erreicht, die ihresgleichen sucht. Jedes neue Hassverbrechen wird als „Einzelfall“ verbucht, als unvermeidliche Begleiterscheinung der „angespannten Weltlage“ abgetan. Tatsächlich ist der Anstieg antisemitischer Delikte der Preis für die geduldete Präsenz antisemitischer Ressentiments. Deutschland inszeniert sich seit Jahrzehnten als Lehrmeister in der „Aufarbeitung“. Doch wie Améry erkannte, sind Worte ohne Taten wertlos – und die deutsche Mehrheitsgesellschaft scheint immer bereit, Antisemitismus im Mantel des Antizionismus als „respektabel“ zu akzeptieren.

 

Der Skandal um den Echo-Musikpreis 2018 ist ein Paradebeispiel: Die Preisverleihung an die Rapper Kollegah und Farid Bang für Texte, die Auschwitz-Überlebende verhöhnten, führte nur zu einer symbolischen Abschaffung des Preises, bevor die Öffentlichkeit zum nächsten Thema überging. Ein Armutszeugnis, das zeigt: Solange der Hass in Metaphern und vermeintlich „harmlosem“ Rap verborgen bleibt, ist er akzeptabel. Améry würde sagen, dass die Verachtung für Israel zur „Tugend“ geworden ist, und „Antisemitismus im Gewand des Antizionismus [wird] als Tugend angesehen.“

 

Deutschland versteht Antisemitismus oft nur als historische Lehre und wird unfähig, ihn in der Gegenwart zu erkennen. „Nie wieder“ ist zur hohlen Phrase geworden, die den Luxus erlaubt, das „Schon wieder“ zu ignorieren. Die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft macht das tolerierbar, was längst nicht tolerierbar sein sollte, und so schleichen sich alte Vorurteile wie Nachbarn in den Alltag ein, während Juden in Deutschland zunehmend allein gelassen werden.

 

Seit Jahren warnt der Zentralrat der Juden in Deutschland vor der „Normalisierung des Hasses“. Doch wer hört die Mahnungen noch? Die Worte Amérys und der fortwährende Anstieg antisemitischer Straftaten sind eindringliche Mahnungen, die Gefahr nicht zu unterschätzen. Wenn Deutschland so weitermacht, werden die dramatischen Zahlen antisemitischer Straftaten, die in den letzten Jahren explodiert sind, keine statistischen Ausreißer mehr sein – sie werden zur Routine gehören.

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