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Tunesien: Vom Geburtsort des Arabischen Frühlings zurück in die Umarmung der Diktatur

kpeterl

TL;DR: Tunesien macht einen weiteren schritt zurück in die Autokratie: 40 Oppositionelle stehen in einem Schauprozess vor Gericht, während Saïed Richter entlässt, Kritiker verfolgt und die Demokratie begräbt. Europa schweigt – solange die Migranten gestoppt werden.



Über den schleichenden Tod des 'Arabischen Frühlings' in Nordafrika

Zum Absturz der jungen Demokratie Tunesiens in den Autoritarismus


Es war einmal ein Land, das nach dem Arabischen Frühling als Hoffnungsträger für Demokratie galt. Eine Nation, die den Autokraten aus den Palästen fegte, sich eine Verfassung gab und daran glaubte, dass Freiheit mehr ist als eine hübsche Worthülse in Sonntagsreden Europähischer Politiker. Doch das Märchen ist aus, die Demokratie liegt in Trümmern, und Tunesiens Präsident Kaïs Saïed – ein Jurist, der das Recht nicht als Korrektiv, sondern als persönliche Guillotine versteht – führt sein Land mit eiserner Hand zurück in die Dunkelheit.


Die große Farce des Anti-Terror-Gesetzes


Jetzt also der große Prozess, die „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“. Ein Schauprozess, so grotesk, dass selbst Stalin vor Neid erblassen würde. Etwa 40 Oppositionelle – Politiker, Juristen, Journalisten – stehen vor Gericht, weil sie das Verbrechen begangen haben, nicht die richtigen Freunde zu haben und Saïed nicht als Sonnenkönig zu preisen. Da ist Jawhar Ben Mbarek, einst ein Verfechter der Demokratie, jetzt eine Zielscheibe der Justiz. Oder Abdelhamid Jelassi, ein ehemaliger Ennahdha-Politiker, der mit seinem bloßen Dasein die fragile Psyche des Regimes erschüttert. Der Vorwurf? Eine Verschwörung gegen den Staat, basierend auf den Aussagen dubioser Zeugen, deren Glaubwürdigkeit zwischen „erfunden“ und „halbwahnsinnig“ schwankt.


Saïed, der sich als Erlöser der Nation stilisiert, geht mit der juristischen Machete ans Werk. Da wären also „geheime Zeugen“, deren Identität – welch Zufall – nicht preisgegeben werden kann, Verdächtige, die angeblich mit ausländischen Diplomaten „konspirierten“ (lesen: eine E-Mail schrieben), und Anklagen, die so windschief sind, dass sie nur in einem Justizsystem Bestand haben, das sich vor dem Herrscher auf den Bauch wirft. Die Beweisführung? Subtil wie eine Abrissbirne: Eine Überweisung hier, ein Gespräch dort, eine freimaurerische Weltverschwörung irgendwo dazwischen. Bernard-Henri Lévy soll gar der Kopf des Ganzen sein – weil ein französischer Intellektueller ja immer eine brauchbare Projektionsfläche für den notorischen Autokraten-Wahn ist.


Und während in den Verhören jeder Justizgrundsatz in den Dreck getreten wird, hält sich Ruropa diskret zurück. Brüssel schaut höflich weg, schließlich will man nicht den Mann verärgern, der die Ströme afrikanischer Migranten für Europa in Tunesien aufhält. Menschenrechte? Demokratische Werte? Alles verhandelbar, wenn es darum geht, die EU-Außengrenzen in die Sahara auszulagern.


Doch der Justizskandal ist nur die Spitze des Eisbergs. Die eigentliche Katastrophe begann, als Saïed 2021 mit der Begründung, er müsse die Revolution „retten“, die Institutionen entmachtete und sich zum alleinigen Herrscher erklärte. Seitdem werden Kritiker nicht nur verfolgt, sondern ihre bloße Existenz als Staatsfeindlichkeit umgedeutet. Der Präsident regiert per Dekret, entlässt Richter nach Belieben und verwandelt das Parlament in eine bessere Theaterkulisse.

Wahlen? Eine Farce. Die letzte Abstimmung verzeichnete eine historische Wahlbeteiligung von 11 Prozent – ein Weltrekord im demokratischen Bankrott. Doch Saïed ficht das nicht an. Seine Reden oszillieren zwischen Verschwörungstheorien und autoritären Drohgebärden, und wer es wagt, Widerspruch zu äußern, ist wahlweise ein ausländischer Agent oder ein terroristischer Sympathisant.


Und nun also dieser groteske Fernprozess, eine Justizposse, die den Angeklagten nicht einmal erlaubt, persönlich vor Gericht zu erscheinen. Warum auch? Die Schuldfrage ist doch längst geklärt. Wer angeklagt ist, ist per Definition schuldig, und wer sie verteidigt, macht sich der Komplizenschaft verdächtig. Man könnte meinen, Kafka hätte das Drehbuch geschrieben, aber selbst er hätte wohl Skrupel gehabt, diese absurde Realität zu Papier zu bringen.


Tunesien als warnendes Beispiel


Der Fall Tunesien ist eine Lehrstunde darin, wie schnell ein Staat von einer Demokratie in einen Polizeistaat kippen kann, wenn sich die richtige Mischung aus populistischer Rhetorik, institutionellem Zerfall und internationaler Gleichgültigkeit findet. Es braucht keinen Putsch, keinen Militärputsch, keine Panzer auf den Straßen – es reicht ein Mann, der seine eigene Macht über das Gesetz stellt und eine Gesellschaft, die zu müde ist, um Widerstand zu leisten.


Aber vielleicht ist genau das der Punkt: Tunesien hat den Arabischen Frühling überlebt, aber es hat ihn nie verdaut. Die Demokratie kam, aber sie wuchs nicht stark genug, um den ersten großen Sturm zu überstehen. Jetzt kehrt das Land zu dem zurück, was es über Jahrzehnte kannte: die Sicherheit der Diktatur. Nur diesmal mit der Ironie, dass ihr Architekt einst als demokratische Hoffnung gefeiert wurde.


Und so schließt sich der Kreis. Der Geburtsort des Arabischen Frühlings kehrt dorthin zurück, wo alles begann – in die Fänge der Autokratie. Der Unterschied zu 2011? Damals hatten die Tunesier Hoffnung. Heute bleibt nur noch das bittere Wissen, dass die Freiheit, für die sie gekämpft haben, ihnen unter den Händen zerronnen ist.


 
 
 

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