TL;DR: ‚Im Judentum wie im Islam darf man Frauen nicht anfassen.‘ Sagt wer? Die Tora? Der Talmud? Nein – Instagram und YouTube.
‚Israelis Verweigern Frauen immer den handschlag, da gibts keinen aufschrei'
Der Handschlag als Gerücht über Juden wird zur politischen Waffe gegen Israel.
Der Handschlag als Feindbild: ‚Im Judentum wie im Islam darf man Frauen nicht anfassen.‘ Sagt wer? Die Tora? Der Talmud? Nein – Twitter, Instagram und YouTube-Kommentare. Ein Händedruck zeigt Respekt. Wer ihn verweigert, zeigt oft Ideologie. Wer aber Verallgemeinerungen über ihn teilt, zeigt Vorurteile.
Ah, ein Klassiker der Stammtisch-Theologie: Die Gleichung von Judentum und Islam in puncto Handreichung, gewürzt mit einem Schuss Belehrungston und garniert mit der Drohung, die eigene Wahrheit sei durch ein paar YouTube-Videos unwiderlegbar zu belegen. Da zuckt das moralische Gewissen, und die Finger legen sich ans Kinn – natürlich nur, wenn man der richtigen Halacha folgt.
Der große Irrtum der Verallgemeinerung
Zunächst: Die Behauptung, im Judentum sei das Händeschütteln zwischen Mann und Frau grundsätzlich verboten, ist so korrekt wie die Behauptung, der Sozialismus habe in der DDR geblüht – nämlich gar nicht. Rabbiner Jehoschua Ahrens bringt es in seinem Artikel „Darf ich Ihnen die Hand geben?“ auf den Punkt: Nur wenige rabbinische Autoritäten verbieten den Händedruck zwischen Männern und Frauen vollständig. Und selbst diejenigen, die das tun, tun es nicht aus einem archaischen Frauenfeindlichkeitsreflex, sondern aus einem Konzept namens Schomer Negia – was sich am ehesten als Achtsamkeit gegenüber Berührungen übersetzen lässt.
Achtsamkeit.
Merken Sie sich das Wort gut. Denn es bedeutet nicht: „Ich bin der moralische Sheriff im Wilden Westen der Geschlechterbeziehungen.“ Vielmehr bedeutet es, dass manche gläubige Menschen darauf verzichten, dem anderen Geschlecht die Hand zu geben, um unnötige Intimität zu vermeiden. Was das mit dem Islam zu tun hat? Nun, mehr als mit der aktuellen Weltlage oder dem Aktienkurs von Pfizer.
Der Talmud und die Realität
Der Babylonische Talmud erzählt uns, dass Rabbiner Nachmans Frau, Jalta, von zwei Männern getragen wurde – ja, sie haben sie sogar berührt! Und zwar nicht nur mit den Fingerspitzen, sondern so, dass sie nicht herunterfiel. Man stelle sich vor: Körperkontakt! Ohne Skandal, ohne Schande, ohne Schimpf. Der Talmud lehrt uns, dass es bei Berührungen auf die Absicht ankommt. Keine Kawana (Absicht), keine Sünde. Oder, um es mit dem großen Rambam zu sagen: „Berührungen, die zum Genuss führen, sind verboten.“ Aber ein flüchtiger Händedruck? Wohl kaum.
Ähnlich sieht es Rabbiner Mosche Feinstein. In einer seiner Responsa erklärt er, dass Männer und Frauen durchaus in der U-Bahn oder im Bus nebeneinanderstehen dürfen, auch wenn sie sich berühren. Denn solche Berührungen enthalten kein Element der Begierde oder des Verlangens. Was er jedoch ablehnt, sind Berührungen, die einen intimen Charakter haben. Ein Händedruck fällt kaum darunter.
Die Realität in Israel
Nun, zu Ihrem Beweisangebot mit den Videos: Es ist richtig, dass einige orthodoxe israelische Politikerinnen – zum Beispiel Tzipi Hotovely – Männern keinen Handschlag anbieten. Sie tun dies aus religiöser Überzeugung. Aber glauben Sie wirklich, dass das Verhalten einiger Politikerinnen für das Verhalten aller jüdischen Frauen steht? Das ist, als würde man behaupten, jeder Deutsche trage Lederhosen und spiele Alphorn, weil es in Bayern so üblich ist.
Rabbiner Ahrens stellt klar, dass viele Rabbiner sogar entschieden haben, es sei beleidigend, einer Frau den Handschlag zu verweigern, wenn sie ihn als höfliche Geste anbietet. Die Kontroverse zeigt, dass es keinen eindeutigen Halacha-Beschluss gibt, der jede Berührung verbietet. Vielmehr geht es um persönliche Entscheidungen und kulturelle Sensibilität.
Die Absurdität Ihrer Aussage
Ihr Argument lässt sich zusammenfassen als: „Manche religiöse Juden geben Frauen nicht die Hand. Ergo: Alle Juden tun es nicht. Und übrigens, schaut euch die Videos an.“ Das ist eine Argumentationslinie, die mit einem fröhlichen ad absurdum endet. Denn was Sie tun, ist nichts anderes als die Pauschalisierung und Stereotypisierung, vor der gerade jene Religionen warnen, die Sie hier zu verstehen vorgeben.
Rabbiner Ahrens betont, dass es im Judentum – wie auch im Islam – darum geht, den anderen zu respektieren. Respekt bedeutet nicht, eine Geste des Händedrucks blindlings zu verweigern, sondern zu verstehen, dass kulturelle Normen variieren. Es bedeutet, nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt zu marschieren, sondern mit einem offenen Herzen.
Respekt: Das, was Ihrer Aussage fehlt
Ihr Problem, verehrter Autor, ist nicht das Halacha-Recht. Ihr Problem ist der fehlende Respekt gegenüber der kulturellen Vielfalt, den Religionen lehren. Es geht nicht darum, ob man die Hand gibt oder nicht. Es geht darum, ob man bereit ist, den anderen in seiner Andersartigkeit zu verstehen.
Wenn jemand Ihnen die Hand reicht, haben Sie zwei Möglichkeiten:
Sie schütteln sie und signalisieren: „Ich respektiere Sie.“
Oder Sie lassen es – und signalisieren: „Ich urteile über Sie.“
Ich vermute, Sie entscheiden sich für Letzteres. Das ist bedauerlich. Denn wahre Religiosität – sei es im Judentum, Islam oder Christentum – beginnt mit Achtsamkeit. Mit der Fähigkeit, sich selbst nicht immer für den Nabel der Welt zu halten. Und mit dem Mut, auch andere Wahrheiten zu akzeptieren.
Abschließend: Lernen Sie etwas von Rabbiner Ahrens
Rabbiner Ahrens schreibt:„Es geht bei Schomer Negia um Respekt.“Und weiter:„Viele Rabbiner sind der Ansicht, dass es eine Beleidigung wäre, einer Frau den Handschlag zu verweigern.“
Vielleicht sollten auch Sie diesen Respekt üben – und die Hand ausstrecken, statt Finger zu erheben.
Zur vertiefenden Lektüre: „Darf ich Ihnen die Hand geben?“ von Rabbiner Jehoschua Ahrens
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