„Was Jude ist, bestimmen wir“ – Deutsche Identitätsprüfung im digitalen Selbstlauf
- kpeterl
- vor 6 Stunden
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TL;DR: Wer Jude ist, bestimmt in Deutschland offenbar nicht mehr die jüdische Gemeinschaft, sondern der digitale Mob. Die Debatte um Philipp Peyman Engel zeigt: Es geht nicht um Wahrheit – sondern um Kontrolle. Und das ist antisemitisch. Punkt.

„Die Autorin Deborah Feldman verbreitet aktuell unwahre Behauptungen über den Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, Philipp Peyman Engel. In einem Artikel in der Zeitschrift Weltbühne und in Posts auf Social Media zieht sie seine jüdische Identität in Zweifel. Diese Zweifel entbehren jeder Grundlage. Es ist nicht das erste Mal, dass Feldman mit einer Diffamierungskampagne gegen Personen vorgeht, die ihr unliebsame Meinungen vertreten. Die jüdische Herkunft Engels und die seiner Mutter von Geburt an sind zweifelsfrei durch Unterlagen nachgewiesen – worüber Frau Feldman vor Veröffentlichung informiert wurde. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, als Herausgeber der Jüdischen Allgemeinen, steht zu 100 Prozent hinter Philipp Peyman Engel.
- Zentralrat der Juden in Deutschland, Mai 2024 -
Der Zentralrat hätte es kaum klarer sagen können: Die Herkunft ist belegt, die Unterlagen liegen vor, die Öffentlichkeit wurde informiert. Und trotzdem beginnt die Debatte erst dort, wo sie eigentlich enden müsste – im digitalen Deutschland, wo sich historische Zurückhaltung am WLAN-Router verabschiedet.
Denn wer hierzulande jüdisch ist, entscheidet nicht die Familie, nicht die Gemeinde, nicht ein Beit Din (ein Rabbinatsgericht). Nein – das entscheidet ein Publikum mit Kommentarspalte, Pseudonym und dem unerschütterlichen Glauben, dass Judentum ein Status sei, der sich per Like und Algorithmus legitimieren lasse.
Früher verlangten deutsche Behörden einen gesetzlich definierten Abstammungsnachweis – den Ariernachweis. Wer ihn nicht erbringen konnte, wurde als „Voll-“, „Halb-“ oder „Vierteljude“ oder als Teil einer „fremdrassigen“ Bevölkerungsgruppe all seiner Rechte beraubt. Heute reicht ein Twitter-Account, um von Jüdinnen und Juden den Nachweis ihres Jüdischseins zu fordern.Aber warum eigentlich? Um sicherzugehen, dass man auch wirklich den oder die Richtige*n antisemitisch diffamiert?
Und so wird ein Mensch – in diesem Fall Philipp Peyman Engel – zur Zielscheibe einer kollektiven Identitätsverhandlung, in der sich nichtjüdische Stimmen zu Gutachter*innen über jüdische Zugehörigkeit aufschwingen. Das Ergebnis ist kein Diskurs, sondern ein digitaler Tribunalismus.
@duman___ fragt, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt:
„Gibt’s denn Beweise über die Aussagen seines Lebenslaufes?“
Ein Satz wie eine Denunziation im Wartestand. Als hätte Engel einen Antrag auf Anerkennung zu stellen. Als müsse ein Mensch in Deutschland im Jahr 2024 eine amtlich beglaubigte Bescheinigung über das eigene Judentum hochladen – idealerweise mit Stempel und Halacha-Vermerk.
@ErichGuist ergänzt:
„Vielleicht kann Herr Peymann selbst zu den vorgelegten Fakten Stellung beziehen.“
Klingt höflich, ist aber nichts anderes als die aktualisierte Version eines altbekannten deutschen Reflexes: Rechtfertige dich – oder schweige.
Und dann @CephalopodR:
„Wundert jetzt keinen, dass ihr euch hinter ihn stellt.“
Der „ihr“-Reflex. Die Suggestivform der antijüdischen Rhetorik. Eine Institution wie der Zentralrat der Juden wird nicht als Instanz anerkannt, sondern als Komplizenschaft verdächtigt. Schutz wird zu Verdacht. Solidarität zur Verschwörung. Wer sich verteidigt, macht sich verdächtig.
Doch es geht noch weiter. Wenn schon infrage gestellt wird, ob jemand „wirklich Jude“ sei, warum dann nicht gleich den Körper zum Beweis heranziehen?
@CengizRazman fragt tatsächlich:
„Herr Peyman Engel, sind Sie nach der Halacha überhaupt Jude? Sie sind beschnitten?“
Spätestens hier ist das letzte Feigenblatt gefallen. Jetzt geht es nicht mehr um Zweifel, sondern um Kontrolle. Nicht mehr um Medienkritik, sondern um Identitätsabgleich. Die Frage ist nicht, was Engel schreibt – sondern ob er sein darf, wer er ist.
Was sich hier äußert, ist keine kritische Öffentlichkeit, sondern eine antijüdische Reflexzone im Zivilton. Sie spricht nicht in Parolen, sondern in Forderungen, die sich als Fragen tarnen. Sie schlägt nicht, sie klickt. Und doch hinterlässt sie dasselbe: Misstrauen, Ausgrenzung, Beschämung.
Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus fasst das unmissverständlich zusammen:
„Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil oder Feindseligkeit gegen Jüdinnen und Juden als solche.“
Was anderes ist es, wenn Menschen ohne jede Verbindung zum Judentum öffentlich fordern, über die Zugehörigkeit anderer urteilen zu dürfen?
Was anderes ist es, wenn der Glaube zur Vorlage wird, die Herkunft zur Prüfung und die Beschneidung zum Identitätsmerkmal?
Das ist kein Diskurs. Das ist ein digitaler Loyalitätstest – und ein gefährlicher dazu.
Diese Debatte hätte mit der Erklärung des Zentralrats enden müssen. Dass sie stattdessen erst beginnt, ist der eigentliche Skandal. Nicht, dass Engel Jude ist – sondern dass so viele glauben, sie dürften das bezweifeln.
Nein, das ist keine Meinungsäußerung.Das ist keine offene Gesellschaft.Das ist ein Feindseligkeitsritual mit WLAN.
Und das Problem ist nicht Engel.Das Problem ist: Wer glaubt, über ihn urteilen zu dürfen.
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